Welche Chancen hat Vollgeld im Euroraum? Wäre auch ein nationaler Alleingang möglich?

Die Eurozone erfüllt im Prinzip alle Bedingungen für eine Vollgeldordnung. Es gibt Stimmen, die die EZB sogar für zu unabhängig halten. Ein Problem liegt jedoch darin, dass die Europäische Union (EU) und insbesondere die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWU) gegenwärtig vielen, vielleicht zu vielen nationalen Divergenzen und neonationalistischen Anfeindungen ausgesetzt ist. Gemeinsame europäische Institutionen und Prozesse werden ständig in Frage gestellt und in gelegentlich auch verantwortungsloser Weise für beschränkte nationale Zwecke instrumentalisiert. Immerhin, die Erfahrung seit einem halben Jahrhundert zeigt, dass die EU und ihre Gemeinschaften sich immer wieder haben stabilisieren können. Der Übergang zu einer Vollgeldordnung und die damit verbundene Aussicht auf die volle Seigniorage für die öffentlichen Haushalte und deren Entschuldung wären durchaus geeignet, zu einer neuerlichen Stabilisierung beizutragen.

Für die EU und die Euro-Staaten eröffnet eine Vollgeldreform aufgrund der damit verbundenen Seigniorage interessante Möglichkeiten, und zwar sowohl was die sehr hohe einmalige Übergangs-Seigniorage und die damit verbundene Entschuldung der Staaten angeht, als auch was die laufende Seigniorage aus der normalen Geldschöpfung betrifft. Die Verhandlungen über die Beiträge der EWU-Mitgliedsländer zum EU-Haushalt könnten sich weitgehend erübrigen, und der schon lange bestehende Wunsch der EU-Kommission und des europäischen Parlaments nach einer eigenen Einnahmequelle könnte in diesem Zusammenhang auf einfache Art und Weise erfüllt werden.

Der EU-Haushalt beträgt etwa 1% des Bruttonationaleinkommens in der EU. Er darf sich höchstens auf 1,24% belaufen. In Geldbeträgen ausgedrückt belief sich der EU-Haushalt für 2013 auf 151 Mrd Euro (Verpflichtungsermächtigungen). Die jährliche Zunahme der Euro-Geldmenge M1 schwankte zuletzt zwischen 200–250 Euro. Die Seigniorage in ungefähr einer solchen Größenordnung käme jedoch nur den Euro-Staaten zugute, nicht den anderen EU-Mitgliedern, die den Euro nicht eingeführt haben, gleichwohl den EU-Haushalt mitfinanzieren.

Die Zahlen zeigen, dass der Geldmengenzuwachs mehr als nur ausreicht, um damit den gesamten EU-Haushalt zu bestreiten. Es müsste keine Beiträge der Euro-Staaten zum EU-Haushalt mehr geben, sondern diese Länder würden im Gegenteil von der EU noch Geld bekommen. Die Euro-Staaten könnten aus der Vollgeld-Seigniorage  
- ihren proportionalen Anteil am EU-Haushalt finanzieren und
- die verbleibenden Mittel ihren nationalen Haushalten zuführen.

Als Maßstab für die proportionale Verteilung oder Anrechnung der Seigniorage können die Anteile dienen, welche die Mitgliedsstaaten der Währungs­union an der Europäischen Zentralbank halten. Diese Anteile beruhen auf einer Kombination aus Bevölkerungszahl und Wirtschaftsprodukt.  

Wenn die Länder der Eurozone eine Vollgeldreform durchführen, würden sich die anderen Länder der EU wohl im Nachteil sehen, denn  sie müssten nach wie vor Beiträge an den EU-Haushalt abführen anstatt Überweisungen von der EZB zu erhalten. Im Rahmen der EU käme dieser First-Mover-Vorteil in besonderer Weise zum Tragen.

Könnte ein einzelnes Euro-Land Vollgeld im Alleingang einführen?

Die Frage eines nationalen Alleingangs beim Übergang von Giralgeld zu Vollgeld im Euroraum wird immer wieder einmal aufgeworfen, gerade in Anbetracht krisenbedingt gewachsener Zweifel an der Zukunft der Währungsunion.  

Zunächst würde man denken, dass ein Alleingang rechtlich nicht möglich und auch
politisch nicht sinnvoll ist. Dem ist letztlich in der Tat so. Die Währungsunion und das System der Europäischen Zentralbanken haben ihre Konstruktions­fehler, zum Beispiel  die extrem unausgewogene Stimmrechtsverteilung, oder das fehlende Tages-Settlement zwischen den nationalen Zentralbanken im Eurosystem, zu schweigen von der verkorksten De-facto-Beteiligung der EZB an der gesetzeswidrigen Bail-Out-Politik des ESM durch massive Aufkäufe schlechter Staatsanleihen u.a.m. Dennoch ist die Währungs­­union eine nach Möglichkeit erhaltenswerte, wenn auch reformbedürftige Errungenschaft.

Rechtlich ist die Frage nach einem Vollgeld-Alleingang nicht so eindeutig wie man meinen könnte. Mit der Europäischen Währungsunion (EWU) sind die beteiligten nationalen Zentralbanken zu Mitgliedern im Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) unter Leitung der Europäischen Zentralbank (EZB) geworden. Sie haben insoweit ihre Souveränität an diese Europäische Gemeinschaft übertragen. Jedoch gilt dies möglicherweise nur für die Zins­politik und das Banknotenmonopol der EZB. Das Münzregal liegt weiter bei den nationalen Regierungen – und wie viele Reserven eine nationale Zentralbank 'ihren' Banken zur Verfügung, kann sie selbst bestimmen solange sie sich an die Zinssätze und die (zuletzt arg verschlechterten) Bonitätsvorgaben für notenbankfähige Wertpapiere hält. Das Giralgeldmonopol der Banken besteht nur de facto, nicht de jure. Über das Recht zur Schöpfung und Inumlaufbringung von Buchgeld im Publikumsverkehr ist in keinem grundlegenden Gesetz etwas festgelegt.

So gesehen könnte man es einer Euro-Mitgliednation im gegebenen Fall womöglich nicht untersagen, zu einer Vollgeldordnung im Euro überzugehen. Die betreffende nationale Zentralbank käme jedoch in eine kaum darstellbare Zwitterrolle. Die Stellung der betreffenden nationalen Zentralbank im System der Europäischen Zentralbanken wäre unklar und umstritten. Schon die Initiative zu so etwas würde heftige politische Kontroversen und vielerlei strittige Rechtsfragen aufwerfen. Im Realisierungsfall entstünde eine technisch komplizierte nationale Gemengelage durch die Gleichzeitigkeit von Vollgeld und Giralgeld, die beide auf Euro lauten. Die Vorteile einer Vollgeldordnung könnten nur sehr eingeschränkt zur Geltung kommen. Dennoch bliebe man, schon alleine wegen des Zahlungssystems, auf die Kooperationsbereitschaft der EZB angewiesen.

Ein anderes Alleingang-Konzept besteht darin, den Euro beizubehalten, aber eine nationale Parallelwährung zusätzlich einzuführen, und diese könne als Vollgeld betrieben werden. Gespaltene Währungen – nicht-konvertierbare Binnenwährung getrennt von konvertierbarer Handelswährung für den Außenverkehr – hat es verschiedentlich schon gegeben und schiene von daher als nichts besonderes. 2012 wurden Varianten dieser Idee speziell in Bezug auf Griechenland diskutiert. Abgesehen von Frage, ob das speziell Griechenland wirklich helfen würde, wurde nicht beachtet, wer die neue Alleingang-Währung kontrollieren solle. Es müsste eine parallele Vollgeld-Zentralbank, oder getrennte Vollgeld-Abteilung bei der Zentralbank, errichtet werden, oder aber das Vollgeld einem Regierungsorgan i.e.S. übertragen werden. Letzteres jedoch liefe dem Prinzip der gewaltenteiligen Unabhängigkeit eines staatlichen Geld- und Währungsorgans zuwider.

Den Ausfransungen der EU durch Opt-Outs und Alleingänge würde ein weiterer Flicken unvorteilhaft hinzugefügt.

Man hat gegenwärtig durchaus guten Grund zu fragen, was den Zusammenhalt in Europa mehr belastet – der Euro oder seine Auflösung. Solange aber der Euro existiert, und  die anhaltende Banken- und Euro-Staatsschuldenkrise wie ein Damoklesschwert über ihm hängt, wäre jede Initiative zugunsten eines nationalen Alleingangs faktisch auch eine anti-europäische, neonationalistische Initiative zur Schwächung Europas.

 

 

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Siehe zu diesem Thema
ebenfalls auf dieser Website
Vollgeldreform und Euro >

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