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1.2   Die Giralgeldschöpfung und die Geldmenge sind außer Kontrolle

Rund 82% der umlaufenden Geldmenge in der Europäischen Währungsunion werden heute als Giroguthaben durch die Banken geschaffen - per Kredit, Wertpapierkauf und Anschaffung von Sachwerten wie Immobilien. Von der Zentralbank stammt nur noch der Rest, etwa 17% Banknoten, sowie vom Finanzministerium 1% Münzen.

Faktisch aber wird die gesamte Geldmenge vollständig, also zu 100%, von den Banken bestimmt. Denn sie haben das Heft in der Hand – gegenüber ihren Kunden, wie weit sie deren Nachfrage stattgeben, und gegenüber der Zentralbank, wo sie sich fraktional (zu einem Bruchteil) refinanzieren müssen. Um 100 Euro auf Girokonten zu erzeugen bzw damit zu operieren, benötigen die Banken im Euroraum als Deckung durchschnittlich nur 2,5% Zentralbankgeld, davon      
~ 1,4% Bargeld für den Geldautomaten
~ 0,1% Überschussreserve (das unbare Geld für abschließende Zahlungen im Interbankenverkehr) und
~ 1,0% tote Mindestreserve  (auf alle Einlagen, nicht nur Girokonten).
Generell benötigen Großbanken relativ weniger Reserven als kleinere Banken, da sich im Zahlungsverkehr der Großbanken die laufenden Abflüsse und Zuflüsse besser die Waage halten als bei kleineren Banken.
Da die Banken Zentralbank-Reserven nur in Höhe eines Bruchteils der Kunden-Depositen benötigen, wird das bestehende Giralgeldregime auch als fraktionales Reservebanking bezeichnet.

Aufgrund der Notwendigkeit für die Banken, sich bruchteilig (fraktional) zu refinanzieren, hätte die Zentralbank theoretisch die Möglichkeit, das Giralgeldvolumen indirekt zu kontrollieren, indem sie von den Banken nachgefragte zusätzliche Reserven gewährt oder nur teilweise oder nicht gewährt, oder den Reservenbestand womöglich verringert. In Wirklichkeit aber versuchen die Zentralbanken schon lange nicht mehr, über sog. Reservepositionen die Geldmenge zu steuern. Sie haben sich völlig auf die Setzung der kurzfristigen Leitzinsen verlegt und bedienen ('akkommodieren') die Nachfrage der Banken nach zusätzlichen Reserven praktisch stets prompt und vollständig. Die Reservennachfrage der Banken ist relativ zins-unelastisch. Ob die Zentralbank den Leitzins höher oder geringer setzt, ändert an der Giralgelderzeugung der Banken kaum etwas. Jedoch ändert es die Refinanzierungskosten und insoweit die Gewinnmarge der Banken (aber auch das, bei einer Reservefraktion von durchschnittlich nur 2,5%, nur marginal).  

Der Zentralbank ist die Kontrolle über die Geldmenge faktisch entglitten. Entgegen dem Anschein steuern und finanzieren die Zentralbanken nicht pro-aktiv, sondern re-agieren bereitwillig auf die fraktionalen Re-Finanzierungsvorgaben der Banken. Geldmengen­kontrolle findet nicht statt. Die Zinspolitik, mit der die Geldschöpfung der Banken indirekt beeinflusst werden soll, ist ein weitgehend unwirksamer Ersatz dafür.

Ergeben hat sich die heutige Lage im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch die Verbreitung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs und die damit verbundene Benutzung von Giro­gut­haben als dem bevorzugten Zahlungsmittel. Verstärkt wurde die Entwicklung zudem durch die Online-Computerisierung und die Globalisierung des Geld- und Kapitalverkehrs.

Geldschöpfung außer Kontrolle heißt nicht, die Banken könnten nach völligem Belieben verfahren. Das Banken- und Finanzwesen ist hochgradig reguliert und bürokratisiert (was nicht nur, aber vor allem auch mit der unordentlichen Geldordnung zu tun hat. Bei guter Konstituierung wäre ein nicht unerheblicher Teil der Regulierungen und Bürokratie entbehrlich). Die Giralgeldschöpfung der Banken unterliegt kurzfristig gewissen gesetzlichen und praktischen Restriktionen. Zu den gesetzlichen Restriktionen gehören zum Beispiel Vorschriften der Eigenkapital- und Liquiditätshaltung. Kurzfristig mag das etwas dämpfend wirken, aber mittel- und langfristig nicht. Denn die Banken selbst ermöglichen durch ihre Giralgeldschöpfung eventuelle Eigenkapitalerhöhungen und die Beschaffung höherer Sicherheiten (Wertpapierbestände) ebenso wie sie die nötige Reserven­ausweitung bei der Zentralbank selbst induzieren.  

Zu den praktischen Restriktionen gehört der Bedarf bzw die Bereitschaft von Staat, Unternehmen und Haushalten, sich bei Banken zu verschulden. Das ergänzt sich mit der Bereitschaft oder auch einmal fehlenden Bereitschaft der Banken, Giralgeld zu erzeugen. Diese Bereitschaft ist im wesentlichen abhängig von der Einschätzung der Bonität der Schuldner in den Augen der Banken, oder dem Rating (der Qualitätsbewertung) von Wertpapieren und überhaupt der generellen Einschätzung finanz- und realwirtschaftlicher Chancen und Risiken. Diese Einschätzungen schwanken freilich erheblich je nach Umständen und generell im Verlauf der Konjunktur- und Börsenzyklen. Das zuweilen sehr risikobereite, zuweilen wiederum besonders risikoscheue Verhalten der Banken ist Teil ihres prozyklisch überschießenden Geschäftsgebarens.

Die wohl wichtigste Restriktion, und die Grundbedingung der Banken-Giralgeld­schöpfung überhaupt, besteht darin, dass die Banken das Giralgeld und damit ihre Bilanzen in etwa im Gleichschritt erweitern. Nur so ist gewährleistet, dass im Clearing und Settlement des Zahlungsverkehrs die Abflüsse und Zuströme an Girogut­haben, Bargeld und Reserven sich bei allen Banken in etwa die Waage halten und keine zu großen Zahlungs-Salden (Defizite/Überschüsse) entstehen. Würde sich eine einzelne Bank zu schnell mit zu vielen Girogutschriften exponieren, käme sie rasch in Liquiditätsengpässe und überhohe Refinanzierungskosten mit weiteren negativen Folgen. Möglicherweise liegt hier auch eine der Ursachen für die ausprägte mentale und praktische Gruppenkonformität im Banken- und Finanzsektor.         

Die faktisch so gut wie nicht vorhandene Kontrolle der Geldvermehrung, zwischenzeitlich auch Geldverringerung, im Zuge der Giralgeldschöpfung der Banken, und die damit fehlende BIP-orientierte Steuerung der Geldmenge, hat Unsicherheiten, Instabilitäten und schwerwiegende Krisen für Wirtschaft und Gesellschaft zur Folge.